14.Okt.2015

Hiddensee

Insel Hiddensee

Betrachtet man die Küsten Deutschlands onomastisch, fallen einem recht viele interessante Inselnamen ins Auge. Sylt, Rügen, die kleine Gruppe der Inselnamen auf -oog(e) – da gibt es nicht nur viel Sand, Strand und Wasser, sondern häufig auch die (vielfach ungelöste) Frage nach der Bedeutung der Namen. So ist es auch beim Namen der kleinen Insel Hiddensee.

Zur wissenschaftlich fundierten Deutung von Namen sind stets historische Belege vonnöten. Für die Erklärung eines Ortsnamens sind urkundliche Belegeessentiell. Frühe Belege sind besonders wertvoll – wenn sie aus verlässlichen Quellen stammen –, da sie häufig den Stand vor späteren mundartlichen Veränderungen, z. B. volksetymologischen Umdeutungen, zeigen.

1296 abbacia sancti Nicolai in Hyddense
1301 ac conventui Sancti Nicolai in Hyddensze
1302 abbati monasterii sancti Nicholai in Hiddensø
1302 insula Hythensøø
1304 abbacie sancti Nycolai in Hyddensø Cisterciensis
1306 conventum monasterii sancti Nicolai in Hiddense Cysterciensis ordinis
1308 sancti Nycolai in Hyddenzø
1308 abbati de sancto Nycolao in Hyddensø
1324 claustro Hiddenze
1325 claustro Hyddensze
1371 in Hiddense
1371 in Hyddenze
1374 Hiddenzee vnde Nyenkampe

Der Name Hiddensee tritt relativ spät in den Urkunden entgegen; zumeist steht das Kloster St. Nikolai im Fokus, der Inselname wurde nicht immer dazu genannt. Nebenstehens einige der vielen urkundlichen Namenformen (Quellen: Pommersches und Meklenburgisches Urkundenbuch):

Die Belege des Namens unterscheiden sich zwar bezüglich der Schreibung, die Lautung jedoch bleibt dabei gleich: der Stammvokal erscheint durchweg als -i- bzw. -y-, ein hoher vorderer Vokal. Auffällig ist auch, dass zumeist nach diesem Stammvokal eine Doppelkonsonanz -dd- steht. Nur in wenigen Fällen erscheint an dieser Stelle (als schriftliche Variante) -th-. Der Vokal wurde also vermutlich kurz gesprochen. Der letzte Namensteil -see erscheint in den Belegen variantenreich als -se, -sze, -søø, -, -zee und -. Hier kommt vermutlich die Unsicherheit der Schreiber zum Ausdruck, die die Lautgestalt des Namens nicht recht fassen konnten. Ob das darauf deutet, dass der Name aus nicht-deutschem Sprachmaterial gebildet ist?

Die zumeist populärwissenschaftlich ausgerichteten Publikationen verweisen statt auf urkundliche Belege vor allem auf die Nennung der Insel in den Sagen der Edda sowie in den Schriften des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus („Gesta Danorum“). Dort wird der Inselname als insula Hithini bzw. Hythini überliefert und von Saxo Grammaticus mit den Sagen um König Hithin verbunden (in der Edda heißt dieser König Hedin, im Gudrunlied Hettel). Das Grundwort wird zumeist zu dänisch ø ‘Insel’ gestellt, im Bestimmungswort ein Personenname der Form Hedin, Hydden, Hidden usw. vermutet.1

Ø ist Insel

Hanswilhelm Haefs nimmt seine Deutung ohne Prüfung oder Angabe der Belegquellen vor: „Die Ostseeinsel w von Rügen hieß ad 1159 In insula Hythini, ca. 1190 Hithinsø: aus dem Wikinger PN Hithin, nord. später Hedin, also etwa = Sdlg auf der Insel des Hithin“.2

Dietmar Urmes verweist auf andere Inselnamen gleicher oder ähnlich lautender Endung und erkennt im Grundwort auch das Wort für die Insel, wobei er zu vergleichenden Zwecken deren Entsprechungen in anderen nordgermanischen Sprachen sowie Beispielnamen mit diesem Grundwort anführt: norwegisch øy (z. B. in: Magerøy ‘die nur mit dürftigem Gras bewachsen ist’, Kvaløy ‘Qual-Insel’, Andøy ‘Enteninsel’, Langøy ‘lange Insel’), friesisch -ey (in Norderney in der Funktion einer Endung), mittelniederdeutsch -oog (eig. zu mittelniederdeutsch och ‘Insel’3) (z. B. in Wangerooge, zu altsächsisch wang ‘Feld, Aue’4), schwedisch ö(land), dänisch ø ‘Insel’. Dieses dänische Inselwort setzt er auch für Hiddensee an: „die Insel hieß im 12. Jahrhundert Hithins-ø, ‘Insel des Hedin’, als sie noch zu Dänemark gehörte und bevor eine Sturmflut sie von Rügen trennte.“5

Aber auch in der fachwissenschaftlichen Literatur findet sich zum Namen Hiddensee nicht viel: Max Vasmer, herausragender Indogermanist und Slawist, vermutet einen Volksnamen Heđin als im Namen enthalten, den er aber nicht näher erläutert und zu welchem er keine Etymologie liefert.6

Henning Kaufmann, der nicht nur durch seinen Ergänzungsband zum Standardwerk Förstemanns7, sondern auch mit seinen tiefgründigen Bearbeitungen im Bereich der Toponomastik viel zum Fach beigetragen hat, behandelt einen ähnlich gelagerten Namen in den Niederlanden, den alten Buchtnamen bzw. Seearm Heidenzee. Der Name erscheint 1167 als „Hiddenes- ē“. Kaufmann gibt, nach Maurits Gysseling, eine rekonstruierte Namenform *Hildīnas-ee an, die er zu einem männlichen Personennamen Hildīn stellt.8

Marianne Merwart stellt in ihrer Dissertation viele der hier schon aufgezeigten Sachverhalte zusammen und kommt zum Schluss, „daß das Grundwort das nord. ey, ö ‘Insel’ ist und das Bestimmungswort der Personenname Hedin.“ Sie erwähnt in diesem Zusammenhang auch den niederländischen Namen Heidenzee.9

Die jüngste, interdisziplinär angelegte, wissenschaftliche Publikation zu den Namen auf Rügen und Hiddensee widmet sich vorrangig den slawischen Siedlungsnamen.10 Nur ein kurzer Hinweis zur Herkunft des Namens Hiddensee („nordisch“11) und seiner Bildung findet sich darin: „[es liegt] adän. ø ‘Insel’ zugrunde, vgl. auch Hiddensee: adän. Hithinsø“.12

Vermutlich liegt tatsächlich eine Bildung aus einem Personenname und dem „Inselwort“ ø vor – bleibt nur noch die Frage, was das für ein Personenname ist.

Im Grundwort: ein Personenname

Es handelt sich also um ein Kompositum, einen zusammengesetzten Namen. Im Bestimmungswort Hidden- ist ein Personenname enthalten. Dass das so ist, beweist vor allem die Flexion -s- in der Fuge (zwischen Bestimmungswort und Grundwort). Eine Besonderheit, die in mit (männlichen) Personennamen gebildeten Komposita immer auftritt – wenn auch nicht stets so deutlich wie hier. In den Belegen zu Hiddensee zeigt sich durchweg die starke Flexion; sie ist auch heute noch im Namen am -s- zu erkennen.

Betrachten wir die urkundlichen Belege, können wir eine Personennamenform Hydden oder Hidden extrahieren, die eine verschliffene Bildung zu dem altsächsischen Namen Hildwin ist. Dieser germanisch-altsächsische Rufname bestand aus den Namengliedern altsächsisch hild(i) ‘Kampf’13 und win(i) ‘Freund’14.

Die Namenform Hithin, die so häufig in der Sekundärliteratur als Belegform genannt wird, tritt in den konkreten Namenbelegen nur sehr selten auf. Es handelt sich hier um eine latinisierte Schreibung, also um eine, wenn man so will, künstliche Namenform, die von Urkundenschreibern genutzt wurde. Der wirklich zugrunde liegende Personenname sieht ein wenig anders aus.

Germanische Rufnamen bestanden zumeist aus zwei Namengliedern, die die Wünsche der Eltern für das Neugeborene ausdrückten. Vor allem speisten sich diese aus dem Bereich des Krieges, der Tierwelt oder der Religion. Die eigenständigen Bedeutungen der Namenglieder waren teils sinnvoll aufeinander bezogen (vgl. Friedrich aus altsächsisch frithu/fridu bzw. frethu/fredu, althochdeutsch fridu ‘Friede’ und altsächsisch rīki, althochdeutsch rīhhi ‘reich’), teils wurden sie mechanisch kombiniert (vgl. Frieder zu altsächsisch frithu/fridu bzw. frethu/fredu, althochdeutsch fridu ‘Friede’ und altsächsisch, althochdeutsch heri ‘Heer’). Diese sinnfreien Zusammensetzungen entstanden beispielsweise dadurch, dass die Bedeutung der Namenglieder nicht mehr verstanden wurde. Aber auch die Beliebtheit bestimmter Namenglieder und Nachbenennungen im Kreis der Familie (vgl. Heribrand, Vater des Hildebrand, Vater des Hadubrand) ließen eine Vielzahl an Rufnamen entstehen, die in der Zusammensetzung eher als sinnfrei zu bezeichnen sind.

Der Rufname Hildiwin(i) war ein solcher zweigliedriger Vollname. Doch warum erkennen wir in den Namenbelegen diesen Vollnamen nicht mehr? Das liegt daran, dass Verschleifungsprozesse und Sprachökonomie schon immer Bestandteile der deutschen Sprache (und natürlich ihrer Vorläufer) waren. Germanische Sprachen haben eine starke Tendenz zur Initialbetonung (im Deutschen wird, bis auf Ausnahmen bei entlehnten Wörtern, überwiegend die erste Silbe betont). Die weniger stark bzw. unbetonten Wortnebensilben wurden schon früh zu einem unbetonten -e- abgeschliffen, was sich bei Hiddensee in der seit Überlieferungsbeginn erscheinenden Schreibung -en- erkennen lässt.

Zusammengefasst ist zu sagen, dass der Inselname Hiddensee eine mit zweigliedrigem Rufnamen gebildete, ursprüngliche Grundform *Hildiwines-ø hatte, die sich durch Lautangleichungsprozesse (-ld- zu -dd-: *Hiddiwines-ø), Schwund von Konsonanten sowie Vokalen (v. a. -win zu -(u)in: Hiddi(u)in(e)s-ø) sowie Nebensilbenabschwächung (Hiddens-ø) und semantischer Umdeutung (Hidden-sø zu Hidden-see) zu ihrer heutigen Form entwickelte. Der Inselnamen bedeutet also ‘die Insel des Hildiwin’.15

Ein Zweifel bleibt...

Trotz dieser sprachgeschichtlich passenden Deutung können im Hinblick auf die Semantik des Inselnamens leise Zweifel aufkommen: betrachtet man die Inselnamen der Nord- und Ostsee in ihrer Gesamtheit, fällt besonders auf, dass diese Namen vor allem Bildungen mit appellativischen Bestimmungswörtern sind, in denen Form und Beschaffenheit der Inseln, Lage zum Festland usw. benannt wurden. Die wenigsten von ihnen sind mit Personennamen gebildet.16 Sollte Hiddensee die (fast) einzige Insel sein, die einen „einfachen“ Personennamen im Bestimmungswort trägt oder kann sich nicht vielleicht doch ein, bisher nicht bekanntes, Appellativ darin verstecken?

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1 - So z. B. Arved Jürgensohn: Der Name der Insel: Hiddensee oder Hiddensoe? In: Hiddensee: das Capri von Pommern, ein Reiseführer und Erinnerungsbuch. Hamm 1997, S. 145–152, hier 149; Hans-Joachim Stoll: Wie der Name Hiddensee entstand. In: Rugia-Journal. Rügener Heimatkalender. Putbus 1999 (1998), S. 45–47, hier 47.
2 - Hanswilhelm Haefs: Ortsnamen und Ortsgeschichten auf Rügen mitsamt Hiddensee und Mönchsgut. Norderstedt: Books on Demand, 2003, S. 29.
3 u.4 - Dietmar Urmes: Handbuch der geographischen Namen. Wiesbaden 2003, S. 93.
5 - Ebd. S.88
6 - Max Vasmer: Schriften zur slavischen Altertumskunde und Namenkunde. Hrsg. v. Herbert Bräuer. Bd. 2. Berlin-Wiesbaden 1971, S. 682.
7- Altdeutsches Namenbuch: Bd. 1. Altdeutsche Personennamen. Ergänzungsband. / Ernst Förstemann. Ergänzungsband verfaßt von Henning Kaufmann. München 1968.
8 - Henning Kaufmann: Die mit Personennamen zusammengesetzten Fluß- und Ortsnamen auf „aha“. München 1977, S. 7.
9 - Marianne Merwart: Studien zu den Inselnamen der Nord- und Ostsee. (Diss.) Hamburg 1940, S. 166f.
10 - Heike Reimann / Fred Ruchhöft / Cornelia Willich: Rügen im Mittelalter. Eine interdisziplinäre Studie zur mittelalterlichen Besiedlung auf Rügen. Stuttgart 2011 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 36).
11 - Ebd. S.127
12 - Ebd. S. 244
13 - Ernst Förstemann: Altdeutsches Namenbuch. Erster Band: Personennamen. Nachdruck der zweiten, völlig umgearbeiteten Auflage. Hildesheim 1966, Sp. 818; Wilhelm Schlaug: Die altsächsischen Personennamen vor dem Jahre 1000. Lund 1962, S. 107–110; Wilhelm Schlaug: Studien zu den altsächsischen Personennamen des 11. und 12. Jahrhunderts. Lund 1955, S. 203.
14 - Förstemann, Personennamen, Sp. 1608ff.; Schlaug, Studien, S. 164, 230f.; Schlaug, PN vor dem Jahre 1000, S. 180; Henning Kaufmann: Ernst Förstemann. Altdeutsche Personennamen Ergänzungsband. München-Hildenheim 1965, S. 10f.
15 - Der Schwund des Anlauts im Zweitglied -win(i) trat auch beim Ortsnamen Hildesheim ein. Vgl. hierzu Jürgen Udolph: Hildesheim. §1 Namenkundliches. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 14. Begr. v. Johannes Hoops. Hg. v. Heinrich Beck u. a. Berlin-New York 1999, S. 568f., wobei Hildesheim eine andere lautliche Entwicklungsmöglichkeit des Rufnamens Hildiwin in Ortsnamen zeigt, da hier die Assimilierung von -ld- zu -dd- unterblieb und das Zweitglied -win(i) vollkommen schwand.
16 - Merwart, S. 146. – Sie stellt Hiddensee unter die Kulturnamen mit Personennamen. In dieser Gruppe befinden sich nur noch zwei weitere Beispiele: „Pohns Hallig (nach dem Besitzer Pohn); Georgswerder in der Elbe, früher Gorrieswärder, nach dem Besitzer Gorries.“, ebd.